Mehr Zeit zum Denken und Urteilen

Künstliche Intelligenz wird die Arbeit in der Justiz markant verändern, sagt Peter Wildhaber. Der Leiter IT & Transformation über Chaos, digitale Justiz und Zugvögel.

16.11.2023 - Katharina Zürcher

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Ein Mann mit einem Laptop unter dem Arm steht im Park und schaut in den bewölkten Himmel.
Nutzt sein Wissen aus der Atmosphärenphysik für die IT-Transformation des Bundesverwaltungsgerichts: Peter Wildhaber. (Bild: Lukas Würmli)

Peter Wildhaber, Sie sind Atmosphärenphysiker und Spezialist für digitale Transformation. Wie passt das zusammen?
In der Atmosphärenphysik kann man gut erkennen, dass sich aus Chaos Strukturen spontan organisieren. Da dieses universelle Ordnungsprinzip bei hochkomplexen Systemen wie Wolken, Ameisenkolonien oder Vogelschwärmen funktioniert, kann es auch auf komplexe Organisationen wie das Bundesverwaltungsgericht angewendet werden. Demzufolge gelingt die digitale Transformation nur, wenn die Schwarmintelligenz und damit die Intelligenz jedes und jeder Einzelnen genutzt wird. Transformation mittels Mikromanagement hingegen kostet viel Geld und ist meist zum Scheitern verurteilt.

Wenn Ordnung von selbst entsteht, wozu braucht es dann eine Leitung?
Selbstorganisation heisst nicht, dass jeder macht, was er will, und man alles dem Zufall überlässt. Es muss schon ein gemeinsames Verständnis über die Himmelsrichtungen bestehen und die Idee, zusammen nach Süden zu fliegen. Einen «Chief Bird Officer» braucht es aber nicht. Am Bundesverwaltungsgericht wird diese Schwarmintelligenz noch wenig genutzt, doch grundsätzlich ist die Organisation in Sachen Digitalisierung auf dem richtigen Weg. Wichtig ist, das bereits Aufgegleiste gut zu begleiten. Wir müssen alle mitnehmen, denn wir können das Ziel nur gemeinsam erreichen.

Verstehen Sie, dass in Bezug auf die Digitalisierung auch Ängste da sind?
Absolut. Ich habe schon mehrere Digitalisierungsprojekte begleitet, und meistens waren die Ängste der Menschen das grössere Problem als die Technologie. Umso wichtiger ist es, gut zu informieren und die Anwender/innen in den Transfer zu integrieren. Um noch einmal das Bild zu bemühen: Jungvögel, die ihre erste Reise in den Süden unternehmen, halten sich intuitiv in der Mitte des Schwarms und orientieren sich rundum. Vorbilder sind wichtig. Wenn die Altvögel orientierungslos herumflattern oder widersprüchliche Signale aussenden, verliert der Schwarm seine Dynamik und Ausrichtung. Die Struktur zerfällt und mit ihr die Idee von der gemeinsamen Reise nach Süden.

Wo sehen Sie die grössten Chancen für unser Gericht und die Justiz generell?
Digitalisierung schafft Denk- respektive Urteilszeit, weil sich Information in einem grossen Datentopf (Big Data) recherchieren und aufbereiten lassen. Künstliche Intelligenz macht meine Arbeit nicht überflüssig – sie verändert sie nur. Es ist wie bei der Erfindung der Webstühle in England, gegen die Heimarbeiterinnen protestierten: Sie veränderten nur die Art der Arbeit. Die Ostschweiz übrigens, eine Mitte des 19. Jahrhunderts arme und landwirtschaftlich geprägte Region, wäre ohne Strick- und Webmaschinen nicht so zu Wohlstand gekommen. Analog verschafft die Digitalisierung der Jurisprudenz kognitive Freiheiten, indem sie Informationen für das kreative, hochwertige «Stricken» von Urteilen automatisiert zur Verfügung stellt.

Wenn wir von Digitalisierung sprechen, ist da künstliche Intelligenz mitgemeint?
In der Nutzung von Endgeräten weiss man oft nicht mehr, ob künstliche Intelligenz (KI) drinsteckt oder nicht. Auch Google zum Beispiel arbeitet bei Suchabfragen mit teilweiser KI-Unterstützung. Bei der Swissair arbeitete ich bereits vor 25 Jahren mit KI. Die Anwendung geht jetzt nur deshalb so in die Breite, weil die nötigen, immens grossen Rechenleistungen zur Verfügung stehen. KI-Systeme verbrauchen enorm viel Energie. Verarbeiteten wir Menschen Informationen so ineffizient, würden wir verhungern, da wir nicht mit Essen nachkämen. Dazu kommt, dass wir Informationen tatsächlich intelligent verarbeiten, während KI im Grunde nur banale Wahrscheinlichkeitsrechnungen vornimmt.

Ist das der Hauptunterschied zwischen menschlicher Denkleistung und der von KI?
Ja, der «Denk»-Prozess von KI besteht einzig daraus, Informationen aus ihrem Datenreservoir nach Wahrscheinlichkeiten zusammenzusetzen. Nach dem Satzteil «Heute scheint die …» wird sie aus ihrem Millionensatzrepertoire das wahrscheinlichste Wort «Sonne» einsetzen, ohne eine Ahnung zu haben, welches der Bedeutungsunterschied zu «Börse einzustürzen» wäre. Bei uns Menschen dagegen werden Informationen im Gehirn zu sinnhaften Objektrepräsentationen verarbeitet, identifiziert, mit Erfahrungen verglichen und mit Emotionen belegt. Da fliesst das Wissen von Generationen mit ein, das als kulturell und evolutionär tradierter Erfahrungsschatz in unserer Hirnstruktur hinterlegt ist. Verglichen mit uns Menschen ist KI dumm.

«Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz hat gerade erst begonnen.»

Peter Wildhaber

Dennoch staunen gerade viele über die Leistung von KI-Systemen.
Füttert man sie mit guten Daten, können sie durchaus gute Leistungen erbringen. Dabei ist die Qualität der Daten entscheidend; es gilt: Garbage in – Garbage out. Im Bereich der Kommunikation hat KI enorme Fortschritte gemacht, liefert fehlerfreie Übersetzungen oder ermöglicht Sprachsteuerung. Da die Entwicklung gerade erst begonnen hat, wird KI uns und unsere Arbeit in den nächsten zehn Jahren markant beeinflussen.

Welches sind die grössten Risiken und Herausforderungen im Umgang damit?
Eine Herausforderung ist der Umgang mit den enormen Datenmengen. Wie findet KI die relevanten und korrekten Informationen, wie filtert sie Fake News heraus? In diesem Zusammenhang müssen wir unsere Rolle als Informationsproduzenten ernst nehmen, denn einmal freigesetzte digitale Informationen sind fast nicht mehr einzufangen. Alles einmal Publizierte, ob anonymisiert oder nicht, wird täglich von Suchmaschinen-Robots, sogenannten Webcrawlern, analysiert, indiziert, gesammelt und auch der KI zur Weiterverarbeitung zur Verfügung gestellt. Die Aktivitäten dieser Crawler machen zusammen mehr als ein Drittel des weltweiten Internet-Traffics aus. So liegen die Daten im World Wide Web an unterschiedlichen, unkontrollierbaren Orten und sind kaum mehr spurlos zu löschen.

Ist unser Rechtssystem auf den Einsatz von KI vorbereitet?
Schon heute werden in gewissen Ländern Urteile mit KI-Unterstützung geschrieben beziehungsweise vorhergesagt. In zehn Jahren könnte das auch in der Schweiz der Fall sein. KI würde die Urteile auf der Basis von Hunderttausenden von Urteilen fällen, in denen das Recht korrekt angewendet wurde. Und den Richterinnen und Richtern könnte man weder Befangenheit noch parteipolitische Interessen vorwerfen. Aber nicht alles, was technisch machbar wird, ist rechtsstaatlich auch wünschbar.

Also wird es auch in Zukunft Richterinnen und Gerichtsschreiber geben?
Ja, denn gesunden Menschenverstand und differenziertes Urteilsvermögen wird es immer brauchen. Ich kann mir aber vorstellen, dass eine Richterin in zehn Jahren nicht mehr drei Gerichtsschreiber hat, sondern nur noch einen. Sie wird mehr Zeit zum Denken und Urteilen haben, da KI ihr die Recherche und Kombinatorik erleichtert. Chancen sehe ich auch in Bezug auf die Arbeitszeit: Vielleicht werden wir künftig mit KI-Unterstützung in vier Tagen die gleiche Leistung erbringen wie heute in fünf. Wenn das bei gleichem Lohn möglich ist, sind das doch gute Aussichten.

Peter Wildhaber

Peter Wildhaber hat an der ETH Atmosphärenphysik studiert und zum Thema «selbstorganisierte komplexe Systeme» doktoriert. Er war sechs Jahre in der Forschung tätig, bevor er durch die Anwendung von künstlicher Intelligenz für die Berechnung von Flugpreisen zur Informatik fand. Der Vater zweier Kinder im Primarschulalter wohnt am Pfäffikersee im Zürcher Oberland. Bei seinem Hobby Hochseesegeln verbindet er das Navigieren mit den Elementen Wasser und Luft.

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