Von Chiasso nach St. Gallen

Bevor Giulia Marelli ans Bundesverwaltungsgericht kam, arbeitete sie als Fachspezialistin Asyl beim SEM. Von dieser Erfahrung profitiert die Gerichtsschreiberin der Abteilung V heute.

26.06.2023 - Katharina Zürcher

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Portrait Giulia Marelli
Gerichtsschreiberin Giulia Marelli profitiert von ihren Erfahrungen als Fachspezialistin Asyl beim SEM. Foto: Katharina Zürcher

Seit Mai letzten Jahres arbeitet Giulia Marelli am Bundesverwaltungsgericht und hat sich bereits gut eingelebt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Gerichtsschreiberin der Abteilung V zuvor während gut drei Jahren beim Staatssekretariat für Migration SEM als Fachspezialistin Asyl gearbeitet hat. Im Bundesasylzentrum Chiasso war sie zuständig für das Durchführen von Asylverfahren in italienischer Sprache. «Mit so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft in Kontakt zu kommen und zu arbeiten, war sehr interessant», sagt die Juristin, die zuvor während einiger Jahre in Bologna gelebt und gearbeitet hat. Pro Woche habe sie zwei bis drei Anhörungen durchgeführt, die jeweils im Schnitt einen halben Tag gedauert hätten. «Dabei war ich mit der ganzen Bandbreite von Emotionen und menschlichem Verhalten konfrontiert.»

Jeder Fall in Erinnerung geblieben

Da an solchen Anhörungen auch Übersetzerinnen, Rechtsvertreter und Protokollführende dabei sind, galt es, diese Teams zu koordinieren. «Als Leiterin der Anhörung musste ich ruhig und professionell bleiben, auch wenn bei den anderen Beteiligten die Emotionen hochgingen», erzählt Giulia Marelli. Das heisst nicht, dass ihr die Schicksale nicht nahe gegangen wären, im Gegenteil: «Jeder Fall ist mir auf die eine oder andere Weise in Erinnerung geblieben.» Zur Leitung der Instruktionsverfahren gehörte namentlich auch das Auswerten von Beweismitteln, das Durchführen oder in Auftrag geben von Botschaftsanfragen sowie Herkunftsabklärungen und Länderanalysen. Auch das Bewerten der Asylrelevanz und der Glaubhaftigkeit der Vorbringen im Rahmen der Entscheidredaktion gehörte zu Giulia Marellis Aufgaben. «Die Arbeit im Bundesasylzentrum war sehr vielfältig und abwechslungsreich», bilanziert sie, «aber manchmal hätte ich mir mehr Zeit gewünscht, mich mit einzelnen Aspekten des Entscheids juristisch vertiefter auseinanderzusetzen.»

«Als Leiterin der Anhörung musste ich ruhig und professionell bleiben, auch wenn bei den anderen Beteiligten die Emotionen hochgingen.»

Giulia Marelli

Im Ausnahmezustand

Diese Zeit hat die in Basel aufgewachsene Wahltessinerin mit italienischen Wurzeln heute am Gericht. «Ich geniesse es, morgens ins Büro zu kommen und meine Arbeit erledigen zu können, ohne ständig unterbrochen zu werden», sagt sie. Und fügt nach kurzem Nachdenken hinzu: «Obwohl ich mich manchmal beim Gedanken ertappe, dass ich jetzt gerne eine Anhörung durchführen würde.» Denn während am Gericht eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre herrscht, sei im Bundesasylzentrum immer viel Betrieb gewesen. Bis zur Ukrainekrise hätten rund 50 SEM-Mitarbeitende im Bundesasylzentrum Chiasso gearbeitet, nachher wurde innert kürzester Zeit Personal aufgestockt. «Die Ankunft der vielen Geflüchteten hat alles auf den Kopf gestellt», erzählt sie. «Die Cafeteria wurde in einen zusätzlichen Wartesaal umgewandelt, der Parkplatz war überfüllt, das Treppenhaus voller Menschen, überall gab es Gepäck, Katzen und Hunde – es herrschte wirklich Ausnahmezustand.»

Inmitten dieses Gewusels schloss Giulia Marelli, die auch als Yoga-Lehrerin ausgebildet ist, ihre Fälle ab, um danach ans BVGer zu wechseln. Die Situation in der Ukraine beschäftigt sie auch in St. Gallen, da es etwa in Bezug auf den Schutzstatus S Fragen zu klären gab und gibt. Sie freut sich, zu solcher Klärung beitragen zu können, denn sie weiss aus eigener Erfahrung: «Beim SEM werden die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts oft als hilfreich empfunden.»

Alles unter einem Dach

Das Bundesasylzentrum Chiasso, in dem Giulia Marelli als Fachspezialistin Asyl gearbeitet hat, ist eines von sechs Zentren mit Verfahrensfunktion, die im Auftrag des Staatssekretariats für Migration SEM betrieben werden. Es bietet rund 250 Asylsuchenden Unterkunft. Diese werden während ihres maximal 140-tägigen Aufenthalts im Zentrum in dessen Betrieb eingebunden – etwa bezüglich Essensausgabe oder Reinigung. Sie können auch ausserhalb der Unterkunft gemeinnützige Arbeiten erledigen, wofür sie eine finanzielle Entschädigung erhalten.

Neben den Unterkünften und den Gemeinschaftsräumen gibt es in den Bundesasylzentren Büros für die SEM-Mitarbeitenden, für externe Mitarbeitende wie Rechtsvertretende und für die Betreuungs- und Sicherheits-Angestellten. Ein Zentrum mit 350 Unterkunftsplätzen kommt so auf rund 100 Arbeitsplätze, wie das SEM auf seiner Homepage schreibt. Dass alle am Asylverfahren Beteiligten unter einem Dach arbeiten, dient der Effizienz der Verfahren. Denn seit dem 1. März 2019 muss die Mehrheit der Asylverfahren innerhalb von 140 Tagen rechtskräftig entschieden und vollzogen werden. Nach Ablauf der 140 Tage ohne Entscheid wird ein Fall dann vom beschleunigten ins sogenannt erweiterte Verfahren gesetzt.

(zuk)

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