Medienmitteilung zum Urteil F-2739/2022

Anpassung der Wartefrist für Familiennachzüge

Wenn vorläufig in der Schweiz aufgenommene Personen einen Antrag auf Nachzug von Familienangehörigen stellen, ist ab sofort die gesetzliche Wartefrist von drei Jahren nicht mehr strikt und automatisch anzuwenden. Das Bundesverwaltungsgericht passt seine Rechtsprechung an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an.

07.12.2022

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Foto: Keystone
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Im Oktober 2020 wurden zwei eritreische Staatsangehörige, eine Mutter und ihr Sohn, in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Im März 2021 beantragten sie beim Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Einreiseerlaubnis und den Einschluss in ihr vorläufiges Aufnahmerecht für den Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein eritreischer Staatsangehöriger, der sich in Israel aufhielt. Das SEM lehnte den Antrag ab, weil die gesetzlich festgelegte Wartefrist von drei Jahren noch nicht abgelaufen war. Gegen diesen Entscheid erhoben die Antragstellenden im Juni 2022 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer).

Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Die Beschwerdeführenden beriefen sich vor dem BVGer auf das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Weiter stützten sie ihre Argumentation auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Juli 2021, in dem die strikte und automatische Anwendung einer Wartefrist von mehr als zwei Jahren als unvereinbar mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens eingestuft wurde (Beschwerde Nr. 6697/18 in Sachen M. A. gegen Dänemark).

Dem EGMR-Urteil zufolge müssen die nationalen Behörden bei einer Wartefrist von mehr als zwei Jahren jeden Einzelfall individuell beurteilen, um zu bestimmen, ob eine weitere Verzögerung des Familiennachzuges das Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt. Zu berücksichtigen haben sie dabei insbesondere die Intensität der Familienbeziehungen, die bereits vollzogene Integration im Aufnahmestaat, das Bestehen unüberwindbarer Hindernisse für ein Leben der Familie im Herkunftsland und das Wohl des Kindes.

Einhaltung des Völkerrechts
Bisher haben die Schweizer Behörden die dreijährige Wartefrist von Artikel 85 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) strikt angewandt. In Anbetracht der Präzisierungen des EGMR und solange das AIG nicht angepasst ist, um dem besagten Urteil Rechnung zu tragen, sind das SEM und das BVGer gehalten, ihre Praxis in diesem Bereich zu ändern. Neu hat das SEM bereits kurz vor Ablauf einer zweijährigen Frist seit der Anordnung der vorläufigen Aufnahme den Einzelfall zu prüfen. Dabei ist unter Berücksichtigung der Kriterien des EGMR zu bestimmen, ob für die Achtung des Familienlebens eine kürzere Frist als die gesetzliche Dreijahresfrist geboten ist. Demnach weist das BVGer den vorliegenden Fall an das SEM zur Neubeurteilung zurück.

Dieses Urteil ist abschliessend und kann deshalb nicht beim Bundesgericht angefochten werden.