Medienmitteilung zum Urteil E-1813/2019

Faire Verfahren betreffend Familienasyl

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Grundsatzurteil[1] einen weiteren «besonderen Umstand» definiert, welcher der Gewährung des Familienasyls entgegensteht. Zudem kommt es zum Schluss, dass die Ergebnisse der Beweiswürdigung aus einem abgeschlossenen ordentlichen Asylverfahren nicht ohne Weiteres auf ein späteres Verfahren betreffend Familienasyl übertragen werden können. Das rechtliche Gehör muss nochmals gewährt und seine Ergebnisse separat gewürdigt werden.

09.07.2020

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Eine Frau tibetischer Ethnie ersuchte 2015 um Asyl in der Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) wies ihr Gesuch ab. Obwohl das SEM von ihrer tibetischen Ethnie überzeugt war, konnte die Betroffene nicht nachweisen, dass sie direkt aus China geflohen war. Das SEM kam namentlich gestützt auf die Herkunftsanalyse eines externen Experten zum Schluss, dass die Gesuchstellerin sehr wahrscheinlich in der tibetischen Diaspora in Indien oder Nepal aufgewachsen war. Folglich ordnete es ihre Wegweisung aus der Schweiz und den Vollzug dieses Entscheids an, schloss aber ihre Wegweisung in die Volksrepublik China aus, wo chinesische Staatsangehörige tibetischer Ethnie bei der Rückkehr der Gefahr von Verfolgungen ausgesetzt sind.

 

Die Betroffene heiratete 2019 in der Schweiz einen Mann, der selber vorher Asyl erhalten hatte. Darauf ersuchte sie beim SEM um Familienasyl, das heisst um Einbezug in die Flüchtlingseigenschaft ihres Ehemannes. Das SEM wies dieses Gesuch im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Gesuchstellerin hätte im Verfahren um die originäre Flüchtlingseigenschaft den Ort, an dem sie hauptsächlich sozialisiert wurde, verheimlicht und dadurch ihre Mitwirkungspflichten verletzt. Deshalb habe das SEM nicht überprüfen können, ob sich die Gesuchstellerin mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Kind in einem Staat niederlassen könnte, dessen Staatsangehörigkeit sie vielleicht besass. In diesem Fall hätte ebenfalls kein Familienasyl gewährt werden können.

 

Neuer «besonderer Umstand»

Dieser Einzelfall veranlasste das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) zur Klärung einer Grundsatzfrage: Wird das SEM an der Überprüfung gehindert, ob die um Familienasyl ersuchende Person eine weitere Staatsangehörigkeit besitzt als die ihres Familienangehörigen, dem die Flüchtlingseigenschaft bereits zuerkannt wurde, so kann dies einen «besonderen Umstand» darstellen. Dies ist der Fall, wenn die asylsuchende Person ihre Mitwirkungspflichten im Verfahren betreffend Familienasyl schwer verletzt. Ein solcher «besonderer Umstand» steht der Gewährung des Familienasyls entgegen.

 

Neugewährung des rechtlichen Gehörs

Gemäss BVGer kann das SEM zwar die Tatsachen und Beweismittel des ersten, abgeschlossenen Verfahrens berücksichtigen. Das Staatssekretariat muss jedoch der gesuchstellenden Person im zweiten Verfahren erneut die Möglichkeit geben, sich zu diesen zu äussern. Es muss ihr also das rechtliche Gehör neu gewähren. Vorgängig hat das SEM die gesuchstellende Person über die Folgen einer Verletzung der Mitwirkungspflicht für den Ausgang des Verfahrens um Familienasyl zu informieren. Danach muss es die Antwort, die die gesuchstellende Person im Rahmen des rechtlichen Gehörs erteilt, mit Blick auf die spezifischen Erfordernisse eines Gesuchs um Familienasyl würdigen.

 

Dieses Vorgehen ist notwendig, weil für das ordentliche Asylverfahren andere rechtliche Voraussetzungen gelten als für das Verfahren um Einbezug in das Familienasyl. Eine Aussage der gesuchstellenden Person oder ein erneutes Verschweigen wesentlicher Elemente hat angesichts des potenziellen Anspruchs auf eine kantonale Aufenthaltsbewilligung grundsätzlich keinen Einfluss auf den Vollzug des Wegweisungsentscheids.

 

Neubeurteilung erforderlich

Im vorliegenden Fall muss das SEM die Betroffene im Rahmen ihres Gesuchs um Familienasyl fragen, ob sie, trotz der entgegengesetzten Folgerungen des Experten, an ihren Aussagen aus dem ordentlichen Asylgesuch festhält. Damals gab sie an, dass der Ort ihrer Hauptsozialisation Tibet sei und dass sie nur die chinesische Staatsangehörigkeit besitze. Andernfalls ist ihr die Möglichkeit einzuräumen, ihre bisherigen Aussagen zu ändern und dem SEM zu ermöglichen, den wahren Ort ihrer Hauptsozialisation zu bestimmen sowie auszuschliessen, dass sie eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat. Nachdem das SEM die Antwort der Gesuchstellerin im Rahmen des so gewährten rechtlichen Gehörs eingeholt hat, muss es die Gesamtheit ihrer Aussagen und alle in den Akten vorhandenen Beweismittel im Hinblick auf die Frage neu würdigen, ob sie ihre Mitwirkungspflicht auch im Verfahren betreffend Familienasyl verletzt hat, und gegebenenfalls die Schwere dieser Verletzung bestimmen. Somit hebt das BVGer den Entscheid über die Ablehnung des Familienasyls auf und weist die Sache zur Ergänzung der Instruktion und Neubeurteilung an das SEM zurück.

 

Dieses Urteil ist abschliessend und kann deshalb nicht beim Bundesgericht angefochten werden.

 


[1] Dieses Urteil wurde durch die versammelte Richterschaft der Abteilungen IV und V koordiniert. Die darin enthaltene juristische Würdigung hat über den Einzelfall hinaus für eine Mehrzahl von Verfahren Gültigkeit.