Justizverwaltung und richterliche Unabhängigkeit

Welches sind die Grundlagen und Grenzen der Justizverwaltung? Welche Rolle spielt die richterliche Unabhängigkeit? Antworten auf diese und andere Fragen gab es an der 3. Schweizer Tagung «Judikative» am Bundesverwaltungsgericht.

28.11.2023 - Katharina Zürcher

Teilen
An der 3. Schweizer Tagung «Judikative» referierten Daniela Thurnherr, Martin Kayser, Alexander Misic und Stephan Breitenmoser. | © BVGer / Lukas Würmli
An der 3. Schweizer Tagung «Judikative» referierten Daniela Thurnherr, Martin Kayser und Alexander Misic. Stephan Breitenmoser leitete die Tagung. (Bild: Lukas Würmli)

Drei Experten und eine Expertin referierten am 9. November 2023 in St. Gallen zu den Grundlagen und Grenzen der Justizverwaltung. Alexander Misic und Martin Kayser vom Bundesverwaltungsgericht sowie Daniela Thurnherr von der Universität Basel waren vor Ort im Grossen Gerichtssaal präsent, Christoph Sobotta vom EuGH wurde per Videoübertragung zugeschaltet. Geleitet wurde die vom Bundesverwaltungsgericht in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Institut für Justiz SIFJ organisierte Tagung von Stephan Breitenmoser, Vizepräsident des Bundesverwaltungsgerichts. Zugeschaltet war auch Bundesrichter Thomas Stadelmann, Präsident des SIFJ. Vor Ort nahmen rund 50 Personen an der Tagung teil, während es online nochmals rund 70 waren.

EuGH: Keine ernsthaften Zweifel
Den Auftakt der Vortragsreihe machte Christoph Sobotta, erster Mitarbeiter des Kabinetts von Generalanwältin Juliane Kokott am Gerichtshof der Europäischen Union EuGH in Luxemburg. Generalanwälte – die Funktion ist eine Besonderheit des obersten rechtsprechenden Organs der EU – formulieren Schlussanträge in Form von begründeten Entscheidungsvorschlägen. «Die unabhängigen und neutralen Schlussanträge sind nicht das Urteil», betonte Sobotta, «aber sie können den Hintergrund beleuchten.» In seinem Referat «Spannungsfeld Justizverwaltung und Richterliche Unabhängigkeit aus Sicht des EuGH» legte er den Schwerpunkt auf die Hauptlinien der Rechtsprechung zur Rechtsstaatlichkeit sowie auf die Organisation der Unionsgerichte. «Auch die Unionsgerichte müssen sich an der Rechtsprechung zur Rechtsstaatlichkeit messen lassen», sagte er. «Sie sind nicht perfekt, aber es gibt keine ernsthaften Zweifel.» Der EuGH besteht aus je einem Richter oder einer Richterin pro Mitgliedstaat. Diese werden für eine Amtszeit von sechs Jahren durch einstimmigen Beschluss der Regierungen aller Mitgliedstaaten ernannt; Wiederernennung ist möglich.

«Die Leitung von Gerichten umfasst Leadership und Effektivität, und nicht allein Management und Effizienz.»

Martin Kayser

EGMR: Unabhängigkeit ist kein Privileg
Ebenfalls nach Europa blickte Alexander Misic, Bundesverwaltungsrichter der Abteilung I und ehemaliger Gerichtsschreiber am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. In seinem Referat «Der EGMR, die Verwaltung der Justiz und die richterliche Unabhängigkeit» legte er den Schwerpunkt auf die Themen Spruchkörperbildung und Disziplinarmassnahmen gegen EGMR-Richter/innen. Dank klarer Regeln und sogenannter Formationen funktioniere die Spruchkörperbildung in den sieben Richter/innen umfassenden Kammern gut, sagte er. Die Fallzuteilung erfolge nach Massgabe der Formationen nach dem Rotationsprinzip. Gesetzliche Disziplinarmassnahmen für Richter/innen gebe es ausser der Amtsenthebung keine, doch auf informeller Ebene seien Massnahmen möglich. Diese reichten von der Arbeitslast über Gespräche bis zur (Nicht-)Zuteilung begehrter Posten. Alexander Misic schloss mit einem Zitat einer Stellungnahme des Beirats europäischer Richter des Europarats (CCJE): «Die Unabhängigkeit der Richter ist kein Vorrecht oder Privileg, das in ihrem eigenen Interesse gewährt wird, sondern im Interesse des Rechtsstaats und aller, die Gerechtigkeit suchen und erwarten.» 

Leadership und Effektivität
Für Martin Kayser, Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und bis Ende 2023 Bundesverwaltungsrichter der Abteilung II, war sein Referat gleichsam ein Abschied von der Justiz. Unter dem Titel «Unentgeltliche Rechtspflege im Spannungsfeld zwischen Gerichtsverwaltung und effektivem Rechtsschutz» zeigte er den Zusammenhang zwischen hohen Fallzahlen und der Beurteilung der Prozessaussichten auf. «Es besteht die Gefahr, dass Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege allein wegen der Arbeitsbelastung abgewiesen werden, und dem muss mit der Organisation des Gerichts begegnet werden.» Dazu müsse die Gerichtsleitung Verantwortung übernehmen und Zuständigkeiten sicherstellen. Es gelte, Grenzen zwischen den Abteilungen aufzuweichen, den Austausch zwischen den Richterinnen und Richtern untereinander zu fördern und die Gerichtsschreibenden an Bord zu holen. «Die Leitung von Gerichten umfasst Leadership und Effektivität, und nicht allein Management und Effizienz», sagte Martin Kayser. «Alles Handeln der Gerichtsleitung muss die Effektivität des Gerichtsschutzes im Blick haben.»

BVGer hat Hausaufgaben gemacht
Spruchkörperbildung, richterliche Unabhängigkeit und Selbstverwaltung waren die Themen des Vortrags von Daniela Thurnherr, Professorin für Öffentliches Recht und Vorsitzende der Regenz der Universität Basel. Sie hatte einen Bericht zur Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht verfasst und verwies auf dessen Fazit, welches das Gericht in seiner Medienmitteilung vom Mai wie folgt zusammengefasst hat: «Die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht ist völkerrechts- und verfassungskonform sowie zweckmässig.» Daniela Thurnherr erläuterte die entsprechenden Vorgaben und ging auf die Besonderheiten am BVGer ein. Sie erläuterte im Detail die jüngste Revision des Geschäftsreglements für das Bundesverwaltungsgericht. Mit Blick darauf sowie auf das interne Spruchkörper-Controlling, das auch im BVGer-Geschäftsbericht ausgewiesen wird, sagte sie: «Das Gericht hat seine Hausaufgaben gemacht.» Am Beispiel des Appellationsgerichts Basel-Stadt, dem sie als nebenamtliche Richterin angehört, zeigte sie zum Schluss Verantwortlichkeiten und Zuteilungsgrundsätze bei der Spruchkörperbildung auf Kantonsebene auf.

Abgeschlossen wurde die Justiztagung durch eine Diskussions- und Fragerunde mit den Referierenden sowie den Tagungsleitern Stephan Breitenmoser und Thomas Stadelmann.

Weitere Blogeinträge