Völkerrechtskonformität: Ein vergleichsweise unbekanntes Konzept

Worum geht es bei der Völkerrechtskonformität von Gesetzen? Wie wird die Kontrolle in der Schweiz ausgeübt? Diese und weitere Fragen wurden am 25. Januar 2024 anlässlich einer Konferenz am BVGer diskutiert.

22.02.2024 - Stéphane Oppliger

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Gespräch zwischen den beiden Referenten.  | © Lukas Würmli / BVGer
Giorgio Malinverni und Michel Hottelier geben ihr Wissen zum Völkerrecht preis.

Am 25. Januar fand am Bundesverwaltungsgericht eine Konferenz zur Kontrolle der Völkerrechtskonformität von Gesetzen statt. Zwei Referenten waren eingeladen, um das Thema zu beleuchten: Giorgio Malinverni, der von 2007 bis 2011 Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) war, und Michel Hottelier, ehemaliger Professor für Verfassungsrecht und Menschenrechte an der Universität Genf. In ihrer Präsentation erläuterten die Referenten die Kontrolle der Völkerrechtskonformität von Gesetzen, ihre normativen Grundlagen und ihre historische Entwicklung.

Im Anschluss fand ein Austausch mit den beiden Gästen und einem Panel des Bundesverwaltungsgerichts statt: Richterin Camilla Mariéthoz-Wyssen, Richter Alexander Misic, Richterin Chiara Piras sowie Gerichtsschreiberin Christa Preisig, die am EGMR gearbeitet hat. Die Tagung wurde von Gregor Chatton organisiert, den die beiden Gäste seinerzeit als Doktorierenden betreut hatten.

«Das Bundesgericht hat entschieden: Die Konvention geht der Verfassung vor.»

Michel Hottelier

Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
Am Anfang seines Vortrags wies Michel Hottelier darauf hin, die Kontrolle der Völkerrechtskonformität von Gesetzen sei oftmals nicht sehr bekannt und werde in fast keinem Gesetzestext erwähnt. Ein Urteil des BVGer bilde eine seltene Ausnahme. Was also ist darunter zu verstehen? Nach Michel Hottelier handelt es sich um die gerichtliche Kontrolle der Vereinbarkeit mit einem internationalen Abkommen. Im weiteren Sinne könne sie als Überprüfung einer internationalen Legalität verstanden werden. Im engeren Sinne beziehe sie sich auf die Einhaltung der EMRK.

Michel Hottelier hat auch die historische Entwicklung des Gegenstands der Kontrolle der Völkerrechtskonformität von Gesetzen beleuchtet und dabei drei Ebenen unterschieden. Die erste sei die Einhaltung der Konvention durch das kantonale Recht. Es habe bis Ende der Achtzigerjahre gedauert, nach zahlreichen Verurteilungen der Schweiz durch den EGMR, bis das Bundesgericht seine Rechtsprechung weiterentwickelt habe. Seither werde die EMRK viel konsequenter eingehalten. Die zweite Ebene seien die Bundesgesetze. Auch hier habe das Bundesgericht den Grundsatz des Vorrangs des Völkerrechts festgelegt und die Konvention gehe vor. Die dritte Ebene sei die Einhaltung der Konvention durch die Verfassung. Herr Hottelier betont, dass Konflikte zwischen beiden äusserst selten seien. Dennoch sei seiner Meinung nach klar, dass das Bundesgericht die Frage im Sinne des Vorrangs der Konvention entschieden habe.

Harmonische Rechtsauslegung
Giorgio Malinverni erinnerte daran, dass Richterinnen und Richter das Recht so auszulegen haben, dass Konflikte zwischen der Verfassung und der Konvention vermieden werden. Darüber hinaus ergebe sich der Grundsatz des Vorrangs des Völkerrechts aus der Verfassung selbst, zum Beispiel aus Art. 5 Abs. 4 BV, wonach Bund und Kantone das Völkerrecht zu beachten haben. Die beiden Referenten beendeten ihre Präsentation mit einer Ehrerbietung gegenüber dem kürzlich verstorbenen Dick Marty.

In der Austauschrunde äusserten sich die Podiumsteilnehmenden zu Fragen, die sie aufgrund ihrer Erfahrungen im Bereich der Menschenrechte und der EMRK beantworten konnten. Sie sprachen insbesondere über die Unterschiede zwischen dem EGMR und dem UN-Ausschuss gegen Folter. Gregor Chatton fragte die Mitglieder des Panels, wie sie als Richterin, Richter oder Gerichtsschreiberin die Menschenrechte berücksichtigen. Für Christa Preisig, die am EGMR gearbeitet hat, müssten bestimmte Reflexe entwickelt werden. So habe sie es sich zur Gewohnheit gemacht, HUDOC zu konsultieren, die Datenbank des EGMR, um die Urteile des Gerichtshofs zu lesen und in ihrer Arbeit zu berücksichtigen.

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