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EU muss sich von heiligen Kühen des Dublin-Systems lösen

Gerichtsschreiber Constantin Hruschka, ein ausgewiesener Kenner des europäischen Migrationsrechts, nennt die Probleme des Dublin-Systems beim Namen. Zu Europa hat er nicht nur beruflich einen Bezug.

27.09.2022 - Rocco Maglio

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Portrait Constantin Hruschka
Gerichtsschreiber Constantin Hruschka, nennt die Probleme des Dublin-Systems beim Namen. Foto: Lukas Würmli

Obschon für Constantin Hruschka, Gerichtsschreiber der Abteilung IV, das Dublin-System im Asylwesen nicht ausgedient hat, müsse man sich über die Regeln unterhalten. Er erkennt drei Probleme des Dublin-Systems: die mangelnde Fairness des Systems, den Vollzug und die Innenpolitik eines jeden EU-Staates.

Constantin Hruschka, können Sie die drei Problemfelder näher erläutern?

Dublin würde theoretisch den Staaten an den Aussengrenzen überproportional viele Asylgesuche zuweisen, ist also ungerecht angelegt. Das System ist ferner auch für die Asylsuchenden unfair, deren Präferenzen bei der Zuordnung zu einem EU-Staat kaum eine Rolle spielen. Hinzu kommt ein Vollzugsproblem, denn oft schaffen es die Staaten nicht, eine rechtskräftig angeordnete Überstellung auch tatsächlich durchzuführen. Schliesslich ist die Migration ein wichtiges und stark umstrittenes Thema in der Innenpolitik der EU-Staaten. Wenn die Staaten innenpolitisch unter starkem Druck stehen, denken sie weniger europäisch und mehr national.

Sollte sich die EU nicht von Dublin lösen?

Das ist politisch unrealistisch. Vielmehr wäre eine Weiterentwicklung des heutigen Dublin-Systems anzustreben. Hierbei müsste man sich aber von den heiligen Kühen entfernen, die Dublin produziert hat.

Portrait Constantin Hruschka

ZUR PERSON

Constantin Hruschka (geb. 1969) ist seit Mai 2021 Gerichtsschreiber in der Abteilung IV. Zuvor war er dreieinhalb Jahre am Max-Planck-Institut in München an einem Forschungsprojekt beteiligt, das den langen Sommer der Migration von 2015 und die Folgen für Deutschland und der EU analysierte. In dieser Zeit nahm er als Experte im Ausschuss der Regionen Einsitz. Davor arbeitet er bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und beim UNHCR. Er hat Geschichte, Philosophie und Jura an den Universitäten, Würzburg, Poitiers, Paris und München studiert und unterrichtet Europäisches Recht sowie Europäisches und internationales Asylrecht an verschiedenen Universitäten und Hochschulen in Deutschland und in der Schweiz. Der von ihm herausgegebene und mitverfasste Kommentar zur Flüchtlingskonvention ist im April bei Nomos, Manz und Stämpfli erschienen.

Von welchen heiligen Kühen sprechen Sie?

Zum Ersten müsste die primäre Zuständigkeit aufgegeben werden. Nicht mehr derjenige Staat, in dem das Erstgesuch gestellt wurde, wäre für die asylsuchende Person zuständig. Die Zuständigkeit würde vielmehr auf der Grundlage eines vordefinierten Verteilschlüssels bereits von Beginn an direkt europäisch festgelegt. Das ist der zweite Punkt, der eine wesentliche Verschlankung des Verwaltungsverfahrens zur Folge hätte. Als dritter Vorschlag sollte schliesslich das System stärker die Aufnahmebereitschaft von verschiedenen Gemeinden wie beispielsweise Basel, Berlin oder Köln in Kombination mit den Präferenzen der Asylsuchenden berücksichtigen. 

Sind Ihre Vorschläge nicht etwas zu idealistisch, zumal in der EU 2016 und 2020 andere Reformvorschläge gemacht wurden?

Meine Vorschläge stützen sich auf konkrete Probleme in der Praxis, die im Europäischen Ausschuss der Regionen zur Sprache kommen. In diesem Ausschuss sitzen beispielsweise der Bürgermeister aus Palermo und derjenige aus Den Haag mit Rechtsexperten aus Deutschland an einem Tisch und nehmen eine europaweite Optik ein, um Lösungen zu suchen.

Offenes Europa als Errungenschaft

Hruschka gibt er den aktuellen Reformvorschlägen wenig Chance. Vielmehr ist er überzeugt, dass es für die nächsten vier bis fünf Jahre beim Status Quo bleiben und es – wenn überhaupt – nur einige «kosmetische Korrekturen» geben wird. Woher stammt eigentlich seine Faszination für Europa? Er sei mit der Öffnung der Schengen-Grenzen und dem Fall der deutschen Mauer gross geworden. Das sei sehr prägend gewesen. Hinzu komme das Erlebnis, als er mit seiner Familie 1988 seinen bei der UNO in Genf tätigen Grossvater besuchte. Sie hätten damals ewig an der Grenze gestanden. Für ihn sei das offene Europa eine Errungenschaft.

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